Freitag, der 09.12.2022
Bis heute Abend geht der Wachplan. Eigentlich wollten wir schon da sein, im Hafen von St. Lucia.
Jedoch noch 256 sm bis zum Ziel. Unser Etmal von gestern 12.00 bis heute 12.00 Uhr beträgt stolze 128sm. Nicht schlecht, aber bisher war noch Wind. Seit heute Morgen ist dieser eingeschlafen. Nein, nicht total, so dass gar kein Wind wäre, dann müsste man ja entscheiden zu Motoren. Nee, nee, nee… Der Wind hat schlappe 6-10 kn, das kann man doch segeln! Wer, wenn nicht wir!? Dazu eine hohe seitliche Dünung, sodass im Wellental der Wind manchmal fast weg ist. Und dann dreht er noch ganz fies, bis plötzlich die Genua back steht. Also machen wir eine Halse durch den Wind und versuchen wieder Kurs aufzunehmen. Selbst die „Selbst“steueranlage ist damit überfordert, sodass wir von Hand steuern müssen. Genug Experten sind ja an Bord. Aber auch deren Steuerkünste erreichen bei diesen Bedingungen gerade ein „Genügend“. Auf der Seekarte können wir St. Lucia schon sehen. Das wirkt wie auf der Ostsee Kurs Dänemark, nur dass die Zoomstellung auf 100sm steht…
Aber die Stimmung ist gut, keine Anzeichen von Agonie oder gar Revolte. OK, in den letzten Nächten war es so laut unter Deck, daß einige nicht schlafen konnten. Sie wollten lieber den Bewegungen, Verwindungen, ja manchmal der über den Wellenberg hinausspringenden und dann kraftvoll in die nächste Welle eintauchenden Adrienne nachspüren um dann doch zu der Erkenntnis zu kommen: Adrienne macht das schon. Die Wache an Deck freut sich über rauschende Fahrt, bekommt aber Kritik wegen unkollegialen Verhaltens. Also haben wir vor der letzten Nacht gerefft, fuhr sogar besser. Trotzdem hatten einige einen leichten Schlaf. Jetzt würden wir gerne das nervtötende Flip-Flap, Ding-Dong gegen Speed-Geräusche tauschen… Wie gesagt, Stimmung gut, allerdings gibt es erste Warnzeichen einer Wesensveränderung. Manche haben angefangen zu lesen! Teilweise mitten am Tag und noch schlimmer, mitten in der Nacht! Nicht genug, dass man sich alle 3-4 Tage duschen soll, einige zeigen durch Rasieren, Maniküren, Epilieren an Stellen wo bei alten Männern noch Haare wachsen, einen subtilen Protest gegen den ansonsten geregelten Bordalltag. Gestern kam es zum Äußersten! Als wenn Christian‘s ewiges Rumgewische nicht schon schlimm genug wäre, es wurde gewaschen, von Hand und mit Seewasser + Rei. Harald sogar sein Kopfkissen. Die Reling wurde zum Leidwesen des Kapitäns als Wäscheleine missbraucht. Das sei eine totale Verschandlung der Adrienne! Man wird beobachten müssen, ob es zu weiteren Ersatzhandlungen kommt! Zwischendurch haben wir es auch mit Musik versucht. Nach drei Titeln kam jedoch Kritik an der Playlist. Noch ärger wird’s jedoch, wenn Christian anfängt zu singen. Jens ist jedoch vehement eingeschritten, um diese Ausgeburt von Dis-Tonalität im Keim zu ersticken.
Eben war Delphinalarm, aber außer ein paar fliegenden Fischen nicht zu sehen! Na, Gott sein Dank, nicht dass die Besatzung zu viel Ablenkung erfährt. Die Gespräche sind wieder völlig normal: ausgeglichene Gesprächstemperatur, relativ inhaltsfrei und von beruhigender Belanglosigkeit. So bleibt der Fokus auf dem Meilenzähler und der Steuermann kann weiterhin in die Genua starren. Der Generator ist gestartet. Sein sonores Geräusch wirkt immer beruhigend auf die Besatzung und leichte Abgase geben ein Gefühl von Heimat in dieser doch geruchsfreien Atlantikluft. Nebenbei macht er Strom…also alles i.O.
Gerade setzt eine kleine Briese ein und treibt das VMG über die 4kn Marke! Also werden wir wohl doch irgendwann ankommen. Aber ha, die totale Flaute liegt als blaues Monster fest vor den karibischen Inseln. Also Wachplan verlängern bzw. wieder von oben anfangen… alles geht seinen geregelten Gang…aber das mit dem Lesen macht mir echt Sorgen…
Jetzt habt ihr es bald geschafft! Der Atlantik ist überquert. Euer lang gehegter Traum ist nun verwirklicht. Sind eure Erwartungen erfüllt worden? Konntet ihr die Naturerlebnisse, die neuen Segelerfahrungen, eure Gemeinschaft und die Gelegenheit zur Einkehr genießen?
Auf euch warten vermutlich ein spektakulärer Empfang auf St. Lucia, karibischer Flair, hoffentlich noch ein paar weitere schöne Tage auf „eurer“ Adrienne und auf jeden Fall sehnsüchtig und in Gedanken immer bei euch: wir Daheimgebliebenen.